19.Jh. - Liebenburg & Queensland / New South Wales

Das Australien-Abenteuer

Einwanderungskarte von Queensland, 1865 (Draufklicken zum Vergrößern)

Quelle: Queensland Historical Atlas

Die Geschichte, wie meine Urgroßmutter als junges Mädchen von ihrem Vater mit nach Australien genommen wurde, als der einen Auswandererversuch unternahm, zeigt auf wunderbare Weise, wie wichtig Familienanekdoten für die Ahnenforschung sind. Meine Großmutter erzählte diese Geschichte immer mal wieder; mir erschien sie wie ein Märchen, nicht realer als die Legenden aus den "Hildesheimer Rosen". Doch tatsächlich war beinahe jedes Wort an der kuriosen Geschichte wahr - bis zu Opa Wilhelms Strandung in langen weißen Unterhosen...

(Die Geschichte, wie Oma sie erzählt hat, findet sich ganz unten.)

Ungefähr ab Mitte des 19. Jahrhunderts gab es mehrere große Auswandererwellen von Europa nach Übersee. Vor allem die USA, aber auch Südamerika, Australien und Neuseeland waren die Ziele der Emigranten. Während noch im 18. Jh. auch religiöse Gründe oftmals eine Rolle spielten, war nun die Hoffnung auf ein besseres Leben der größte Motivator, ins Ausland zu gehen. Wirtschaftlich und politisch instabile Verhältnisse trieben Menschen dazu, ihre Heimat aufzugeben und in der Fremde ganz neu anzufangen - oft unter Gefahr für Leib und Leben, ohne ausreichende Kenntnisse des Ziellandes oder dessen Sprache. Die gescheiterte Revolution von 1848 und grassierende Hungersnöte (Stichwort Pauperismus) veranlassten zehntausende Menschen zur Emigration. Australien hatte Mitte des 19. Jahrhunderts einen Goldrausch. Die australische Regierung warb zudem fleißig um europäische Arbeitskräfte, die das z. T. unwirtliche Land urbar machen sollten. Das waren genug Gründe, diese enorme Strecke auf der Suche nach dem Glück überwinden zu wollen (in direkter Linie sind das knapp 15.000 km, ein Flug dauert heute ca. 23 Std.).

Im Frühjahr des Jahres 1890 erhielt der dörntener Schneider Wilhelm Kiehne ein Visum für Australien. Am 29. April verließ die S.S. Dacca London mit Ziel Brisbane. An Bord des 390 Fuß (ca. 119m) langen und rund 300 Passagiere fassenden Dampfschiffes:

Einwanderer aus Großbritannien und Irland und unter den wenigen Deutschen Wilhelm, Dina, Bertha, Emma und Anna Kiehne.

Ausschnitt der Passagierliste der S.S. Dacca. Wilhelm hatte seinen Beruf fälschlicherweise als "Farmer" angegeben - vermutlich, weil die australische Regierung keine Schneider suchte.

Familie Wilhelm Kiehne war im Zwischendeck untergebracht - noch wenige Jahre zuvor hätte das in etwa so ausgesehen (Reproduktion eines Bildes von Dr. John Turner, ursprünglich vermutlich aus der Illustrated London News, August 1850. Bild wird digital vorgehalten in der Cultural Collection of the University of Newcastle, NSW - REF: C917-0173). In moderneren Dampfschiffen wie der Dacca hatte man wohl etwas mehr Komfort, doch es war sicher immer noch eine beschwerliche Reise.

 

Bereits zwei Wochen nach Abfahrt drohte der Traum der Familie Kiehne jedoch jäh zu zerplatzen. Einen Tag nach der Durchquerung des Suez-Kanals lief die S.S. Dacca am 16. Mai 1890 frühmorgens mitten im Roten Meer bei klarer Sicht auf ein Riff und sank nur wenige Stunden später.

So zeigte die 'Illustrated London News" das Unglück.

 

Viele der Passagiere flüchteten in Rettungsbooten, einige retteten sich auf eine Sandbank, auf der sich ein Leuchtturm befand - manche nur mit ihrer Unterwäsche bekleidet.

Zeitungen in Australien, Neuseeland und Deutschland berichteten im Frühjahr und Sommer 1890 vom Unglück der S.S. Dacca (draufklicken zum Vergrößern). Solche Zeitungsausschnitte findet man in der hervorragenden und kostenlosen Datenbank trove.nla.gov.au

Die Besatzung und alle Passagiere verloren ihr Hab und Gut, wurden aber gerettet und nach Suez gebracht, wo man sie provisorisch in Baracken und andernorts unterbrachte. Derweil gab es in Australien, Neuseeland und England Spendenaktionen für die Schiffbrüchigen. V.a. Kleidung wurde gesammelt, aber auch Geld.

 

Im Juni - während die meisten der Schiffbrüchigen noch immer nicht ihr Ziel erreicht hatten - fand in London bereits eine Gerichtsverhandlung statt, deren Ergebnis es war, dass die Schuld am Untergang der Dacca hauptsächlich im menschlichen Versagen des ersten Offiziers, James Tait, zu suchen war. Er verlor sein Offizierspatent für die Dauer von einem Jahr.

 

Erst Ende Juli 1890 - fast drei Monate nach Abfahrt - erreichten unsere Schiffbrüchigen schlussendlich Moreton Bay in Queensland, Süd-Australien.

Die Spur unserer Familie verliert sich nun leider vorerst. Ihnen war auf jeden Fall weiterhin kein Glück beschieden. Dina gebar auf der Reise nach oder in Australien einen Sohn, der kurz darauf starb und in Süd-Brisbane beigesetzt wurde - von diesem Kind war in der Familienüberlieferung bisher nichts bekannt.

Die Suche in verschiedenen australischen Datenbanken förderte den bisher unbekannten Kiehne-Sohn zutage: Friedrich (1890-1891). Ob sein Grab, das vermutlich auf dem South-Brisbane-Friedhof lag, noch existiert, ist nicht bekannt.

In einem andereren Familienzweig wurde die Erzählung weitergetragen, dass die australische Unterkunft der Kiehnes durch Überschwemmung so zerstört worden sei, dass  eine Rückreise nach Deutschland erforderlich wurde. Tatsächlich gab es in Brisbane im Februar und Juni des Jahres 1893 mehrere verheerende Hochwasser.

Im Februar und Juni 1893 gab es extreme Hochwasser in Brisbane, in die Geschichte eingegangen als "The Black February Flood" oder "The Great Flood of 1893".

Quelle: wikimedia commons.

 

Wirklich sicher ist bisher nur: Die Kiehnes kamen bereits drei Jahre nach ihrer Ankunft, im Juli 1893, zurück in die alte Heimat Liebenburg.

Passagierliste der "Hohenzollern" - das Schiff, auf dem Familie Kiehne bereits im Sommer 1893 zurück nach Deutschland reiste. Der Zielhafen war Bremen.

 

Rätselhaft bleibt vorerst auch, wie die Familie sich diese Reise überhaupt leisten konnte. Zwar gab es Angebote, kostenlos nach Australien zu reisen, die Fahrtkosten mussten dann aber vor Ort wohl abgearbeitet werden; wozu drei Jahre knapp bemessen erscheinen. Andere Quellen sagen, es gab mitunter ein Startgeld in Australien. In jedem Falle erscheinen zwei Überfahrten für zwei Erwachsene und drei Kinder innerhalb von drei Jahren für einen Schneider kaum bezahlbar. Außerdem hatte die Familie danach immer noch (oder wieder?) ein Haus in Liebenburg, was die Familienüberlieferung, dass sie ihr Haus zur Finanzierung der Reise verkauft hatten, zumindest zweifelhaft erscheinen lässt. Ob wohlhabende Verwandte in Australien vielleicht die Reisen sponserten oder Wilhelm anderweitig zu einer größeren Summe Geldes gekommen war?

 

Ende der Geschichte? Nicht ganz.

Wilhelm hatte immer erzählt, er hatte Australien als Ziel ausgewählt, weil er Verwandte hatte, die dort lebten. Es gibt in Neu-Südwales und Queensland bis heute viele Kiehnes, u.a. Nachfahren einer Johanna Louise Hartmann, geborene Kiehne, die in den 1860ern mit ihrem Mann Hermann Hartmann aus Beinum und/oder Othfresen (Nachbargemeinden von Wilhelms Heimat Dörnten) nach New South Wales ausgewandert waren. Ich habe meine Fühler dorthin ausgestreckt und nähre die Hoffnung, noch entfernte Verwandte auszumachen, die vielleicht weitere Puzzelteile  hinzufügen können.

Ungefähr so sah die Route unserer Möchtergern-Auswanderer aus.

(Karte: Google Maps. Reiseroute: selbst reingepfuscht.)

 

Wären die Passagiere der Dacca (man könnte sie wohl Wirtschafts-Flüchtlinge nennen) damals nicht durch beherzte Seenotrettung aus ihrem Unglück gerettet worden, würde meine ganze Familie heute nicht existieren. Ähnliches gilt für viele Familien in Europa und Übersee.

...und hier ist die Geschichte, wie sie von Oma Leusebethchen erzählt wurde:

"Ungefähr im Jahre 1887 mit Frau und drei Mädchen, Omma Bertha war 6-7 Jahre alt, ging die Fahrt ganz durch Westdeutschland nach Rotterdam. Mit einem „Steamer“, wie der Oppa in seinem Alter (er wurde 94 Jahre alt) immer erzählte, ging es durch Gibraltar, Italien (der Vesuv hat noch gequalmt), dann Suez-Kanal ins Rote Meer. Dort gab es einen ungewollten Aufenthalt. Das Schiff lief auf ein Riff und ging langsam unter. Frauen und Kinder gingen als erstes in die Rettungsboote, die Männer mussten zurückbleiben. Der Opa, nur in langer weißer Unterhose, und den Brustbeutel mit ihren Barschaften umgehängt, wurde auch gerettet und fand seine Frauen dann wieder. In Australien angekommen (Sydney oder Melbourne), staunten die Kinder über den Inhalt der Badewanne voll von frischer Ananas. Die Oma machte Teig für Pfannkuchen und servierte je eine frische Ananas als Nachtisch dazu. Meine Mutter Bertha kam dort zur Schule, und ich kann mich erinnern, dass Schulhefte vorhanden waren, wo sie englische Wörter und Sätze geübt hat. Sie hat mir später beim Vokabeln-Lernen helfen können, und sie sprach es wunderbar aus. Aber Milch und Honig flossen dort auch nicht, die untergegangenen Möbelstücke und Bekleidung mussten ersetzt werden, und so sind sie bald wieder in Richtung Heimat abgedampft."

 


The peculiar fate of the SS. Dacca


I might add a translation soon. Until then, please contact me, if you think your ancestors are on this page. Also, please read the English introduction.